Nein, wir sind auch keine Ärzt*innen. Wie Menschen aussehen mit einem gestreuten Krebs im ganzen Körper, wie Kinder aussehen, denen die Haare ausfallen oder die kaum aussprechbare Erkrankungen haben, das wissen wir jetzt auch. Sie leiden. Sie weinen und sie kommen immer wieder. Nicht weil wir Ärzt*innen sind. Sondern weil wir alles versuchen.

Vor einem anstehenden Arzttermin verfassen wir Schreiben und erklären die Ausgangslage der Personen, die zur Untersuchung erscheinen. Wir versuchen Dolmetscher*innen für die Termine bei den Ärzt*innen zu finden und deren An- und Abreise zu organisieren. Wir sammeln die bestehenden gesundheitlichen Beschwerden und fassen diese vor einem Termin zusammen. Wir erklären Hintergründe zur Fluchtgeschichte und den Rahmenbedingungen in der Flüchtlingsunterkunft. Nach erfolgten Arztterminen übersetzen wir die Schriftsätze der Ärzt*innen oder holen Auskünfte bei ihnen ein. Bei Behandlungsempfehlungen verfolgen wir den weiteren Behandlungsverlauf, organisieren weiterführende Termine und bleiben im Kontakt mit den behandelnden Ärzt*innen. Wir kümmern uns um die notwendigen Behandlungsscheine von Seiten der Kostenträgerstellen und stellen die dazu notwendigen Dokumente zusammen. Wir haben die Fristen vom Bundesamt zur Vorlage von Attesten und Stellungnahmen im Blick und verlängern diese, falls sie nicht eingehalten werden können.

Neben den Beschränkungen, denen Geflüchtete im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes unterliegen, besteht ein großes Problem im Management der Unterkunft in Oerlinghausen. Der Arzt in der Unterkunft wendete sich Ende Juni an die Öffentlichkeit und schilderte in einem ausführlichen Bericht in der Neuen Westfälischen die Missstände in der Unterkunft: Personalmangel, ein viel zu geringer Personalschlüssel, viele Personen mit schwersten Erkrankungen, und die Krankenschwestern würden „verheizt“. Was aber eine solche Situation mit den Geflüchteten macht, wird nicht thematisiert. Geflüchtete kommen nicht zu Wort –  nicht in dem Zeitungsartikel und oftmals auch nicht in der Unterkunft, denn es fehlen Dolmetscher*innen, insbesondere beim medizinischen Dienst.

Stellen Sie sich vor, Sie gingen mit Schmerzen zum Arzt und müssten diesem ohne Worte ihr Leiden erklären. Geflüchtete schildern uns die Szenen von der medizinischen Station als erniedrigend. Sie würden nicht verstanden, das Personal reagiere gereizt, sie würden angeschrien oder ignoriert. Viele von ihnen treibt es in die Verzweiflung, wenn körperliche und psychische Leiden keinen Weg finden, mitgeteilt zu werden. Die Zeiten des Wartens belasten Körper, Geist und Seele. Unendlich erscheint die Zeit, weil kein Ende in Sicht ist. Und wie ist es mit Psycholog*innen? Es gibt keine, da psychische Behandlung nicht vorgesehen ist. Obwohl ein riesiger Bedarf besteht. Wer so lange keine*n Psycholog*in gesehen hat, dass er oder sie suizidal wird, wird in die Psychiatrie geschickt, meist ohne Dolmetscher*in. Das Ergebnis ist oft ein wenig aussagekräftiges Schreiben, in dem etwas von Sprachproblemen und allerlei Medikamenten geschrieben steht. Und von einer Entlassung in die ambulante Behandlung – in eine ambulante Behandlung, die nicht existiert.

Fallbeispiele unserer Arbeit gibt es haufenweise, von infektionsgefährdeten Personen in der Unterkunft – gezwungen, Gemeinschaftsräume ohne Zugang zu eigenen Sanitäranlagen zu nutzen – von Kleinkindern, denen bleibende Behinderungen drohen und dennoch keine medizinische Hilfe gewährt wird, von monatelang wiederkehrenden Ohnmachtsanfällen und einer ausbleibenden Abklärung der Ursachen, von Krebspatienten, von fehlender Abklärung eines akuten Behandlungsbedarfs bei chronischen Krankheiten. Es scheint eine Glücksfrage zu sein, ob Ärzt*in und Patient*inn zusammenfinden und am Ende etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Ansonsten kann es schon einmal vorkommen, dass der Magen anstatt des Kopfes untersucht wird: „Leider war im Krankenhaus auch kein*e Dolmetscher*in, der Magen allerdings ist in Ordnung!